Zum liberalen Judentum

Das liberale Judentum ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland, aus der Suche nach einer religiösen Form, die einerseits dem Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung, andererseits dem Willen zur Beibehaltung einer positiven jüdischen Identität entsprach. Geprägt wurde es vor allem von Ideen von Moses Mendelssohn, Israel Jacobssohn, Leopold Zunz und Abraham Geiger.

Seit ihrer Gründung hat die liberale Bewegung die Gleichheit aller Menschen und die Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit betont, die aus der Tora und aus den Visionen der jüdischen Propheten hervorgehen. In der jüdisch-liberalen religiösen Lebensweise haben die ethischen Werte bis heute den Vorrang vor rituellen Geboten. Aber auch diese Gebote sind wichtig, um eine Lebensweise zu schaffen, die den Rahmen der Familie, der Gemeinde und der Schicksalsgemeinschaft bewahrt.

Das liberale Judentum ist von der Erkenntnis geprägt, dass Gottes Offenbarung kein einmaliger Vorgang, sondern ein fortschreitender („progressiver“) Prozess ist. Es verlangt von jedem Einzelnen, sein jüdisches Leben auf der Basis religiöser Bildung eigenverantwortlich zu gestalten.

Das liberale Judentum gründete wichtige Institutionen wie die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und brachte bedeutende Gelehrte wie Leo Baeck hervor. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts prägte das Reformjudentum mehrheitlich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, bis diese durch die Nazidiktatur vernichtet wurde.

Diejenigen, die rechtzeitig fliehen konnten oder die Vernichtungslager überlebt haben, trugen die Ideen des deutschen liberalen Judentums in ihre neue Heimat – vor allem nach Nordamerika, Großbritannien und Israel. Sie halfen damit, das Reformjudentum zu der weltweit führenden Religionsrichtung innerhalb des Judentums zu entwickeln.
An die liberale Tradition des deutschen Judentums knüpfen seit den 90er Jahren die in Deutschland neu entstandenen liberalen jüdischen Gemeinden und die von ihnen 1997 gegründete Union Progressiver Juden in Deutschland an. Zu ihr gehören derzeit 21 Gemeinden in ganz Deutschland sowie das in Potsdam angesiedelte Abraham Geiger Kolleg, das erste nach dem Krieg gegründete liberale Rabbinerseminar in Kontinentaleuropa, die Organisation junger Erwachsener Jung & Jüdisch Deutschland und die progressive zionistische Bewegung Arzenu Deutschland.

Die Union Progressiver Juden in Deutschland ist eingebunden in die 1924 unter maßgeblicher Beteiligung des bedeutenden deutschen Rabbiners Leo Baeck gegründete World Union of Progressive Judaism, der weltweit mitgliederstärksten jüdischen religiösen Organisation, der in 46 Ländern 1,8 Millionen liberale Juden angehören.